Schatten des Grauens

Gazmend Freitag: Schatten des Grauens, Bleistift Skizze auf Papier

Hazir Mehmeti, Wien

Die Morgen zu Beginn des März waren dunkler als je zuvor. Der dichte Regen mit seinem monotonen Platsch-Platsch-Spiel auf den Fensterbänken war zum Alltag geworden. Nicht einmal dieses Wetter konnte die Krähen daran hindern, ihre Krallen tief in die Gassen der alten Stadt zu bohren, auf der Suche nach blutenden Verletzungen, ohne die sie nicht sein konnten. Die alten Mauern der mit übel riechendem Moos überzogenenen Gebäude verloren ihren Sinn in den Schritten der menschlichen Entwicklung. Der Stadt war ihr Glanz abhanden gekommen, denn bei jeder Türschwelle hörte man das sinnentleerte Stampfen von Militärstiefeln auf den Gehirnen der Bewohner.

Ilkoni warf sich müde auf sein mit einer faltenreichen, irgendwann gewaschenen Decke bedecktes Bett. Das aus allen feuchten, dunklen Ecken von Schimmel muffelnde Zimmer war schon lange nicht mehr gelüftet worden. Das Eintrittsverbot in die Nationalbibliothek der Hauptstadt hatte ihn über alle Maßen ermüdet, und er hatte inzwischen die Hörer und Studenten der Universität vergessen. Dort hatte er sein ganzes Leben verbracht, mit all den Erlebnissen und Entdeckungen vom Altertum der pelasgischen Götter, das er als das Fundament der Welt betrachtete und dessen Stimme er auf einer staubbedeckten Schallplatte verewigt hatte.

Das zeichenlose Verschwinden seiner Kollegin Eli hatte ihn sehr erschüttert und seinen Hass noch verstärkt, obwohl es eine unheilvolle Warnung für ihn war. Die Suche nach ihr hatte mit dem Ausschauhalten nach irgendetwas geendet, nach Kleidern und Möbeln, die schon durch das obere Schloss der halben, unaufhörlich knarrenden Tür schienen. Rechts an der Mauer spielte Omega noch das mysteriöse rhythmische Spiel der Sekunden auf dem staubbedeckten Tisch, auf dem der mit Aschenresten gefüllte Aschenbecher stand.

“Ich kann Sie nicht mehr schützen. Ich riskiere jetzt meinen Kopf, verstehen sie? Nun gilt auch die Wissenschaft als verrückt und dient keinem mehr, verstehen Sie, mein Herr? Heute treffen wir uns zum letzten Mal. Hauen Sie jetzt ab, weg mit Ihnen und finden Sie eine Lösung, eine Lösung …!”

Es wiederholten sich ihm im Traum zum x-ten Male die letzten Worte des Rektors, denen er die Worte “Tod ohne Leiden” hinzuzufügen sich mühte, aber es war zu spät. In Schweiß gebadet und mit schwerem Atem war sein Traum kaum beendet, als die Tür mit Gewalt gegen den alten Ofen dahinter aufgestoßen wurde. Die flinken Schergen mit dem in ihrer Seele angesammelten Zorn der Welt rissen ihn, bevor er sich’s versah, vom Bett. Vergeblich war der Gedanke, noch schnell die Blätter mit seinen letzten Forschungen zusammenzuraffen, die er benötigte, um das im schwarzen Schatten der blauen Nacht begonne Kapitel über Ippen abzuschließen. Das war der wichtigste Teil des Testaments seines Großvaters, den er nun nicht mehr erfüllen konnte. Das abgegriffene Foto von seiner Mutter, das einzige ihm noch verbliebene, steckte er schnell in seine Brusttasche, während der Lauf der Pistole auf ihn gerichtet war. Eine innere Stimme sagte ihm, es mitzunehmen, da es ihm Glück bringen würde, eine andere hingegen, es müsse für die anderen aufbewahrt werden, als Zeugnis einer Familie, einer Zeit. Tausende Male hatte er den Namen seiner Mutter auf der Rückseite des mit Sorgfalt aufbewahrten Fotos gelesen, mit seiner vielblättrigen gelben Sonnenblume als Zeichen des Glücks. Überall, wo er sich aufhielt, hatte er es mit Liebe an seiner Brust getragen.

Jetzt spürte Ilkoni das Ende seines Seins in diesen Mauern gekommen, wo er sein ganzes Leben mit allem Glück und Weh der Zeit verbracht hatte. “Ich nehme nicht alles mit. Die Briefe der Geliebten mit dem Versprechen, dass die Liebe niemals sterbe, vielmehr in allen Welten lebe, werden zurückbleiben.” Diese Liebe hatte er nur im von der Sonne des Ostens gesegneten Traum genossen. Im Kopf kochte ihm die Stimme des Idomeneos mit allen Instrumenten der Theaterbühne, welche zusammen mit dem Porträt des von unheilbringenden Schatten bedeckten Autors zusammenbrach.

Das alles war nun nicht mehr von Bedeutung, denn draußen wartete schon ungeduldig die schwarze Kolonne auf ihre Nahrung im Winter des menschlichen Wahnsinns. In der Reihe vor dem steinernen Tor des Palastes stellten sie ihn neben die Alte, welche auf der Brust den Gelben Stern mit den vielen Zweigen trug. Ihre zwei kurzgeschorenen Enkelinnen in weißgescheckten Kleidern sollten eigentlich auf den Mai mit seinen Frühlingsblumen warten und zusammen mit den bunten Schmetterlingen auf der Wiese laufen, bis ihr Überschwang im Schoße der Mutter versiegen würde.

Das Warten auf der Straße neben den kalten Mauern, die Zeugnis ablegten über das Leiden jener, welche der Stadt ihren Sinn gaben, erschien endlos. Die Glocke der Kathedrale ließ die erstickten Laute erschallen, welche allein der Schmerz in Menschenkörpern mit abgetöteten Gefühlen vernehmen konnte. Die auf die Silhouette der Alten fallenden Regentropfen erzeugten kalte Strahlen im letzten Morgengrauen über der Stadt des Ostens. Die beiden Mädchen mit den vor Angst düsteren Gesichtern vergruben sich müde in die Hände der vom Gewicht der Jahre gebeugten Großmutter. Ihr schmerzvoller Blick blieb dem Forscher nicht verborgen.

“Wir bleiben zusammen, liebe Frau. Machen Sie sich keine Sorgen … Der Regen wird aufhören, es wird alles gut.”

“Ja, ja, es wird alles gut. Wir werden nur dort zur Ruhe kommen”, zeigte sie zur vom endlos scheinenden Regen in Schlamm verwandelten Erde hin. “Was wird aus diesen beiden http://www.albinfo.ch/u-mbajt-gara-e-diturise-ne-vjene/Blüten? Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen”, sagte die verschleierte Alte, deren Tränen sich mit den kalten Regentropfen vermischten, welche über ihre Gesichtsfalten liefen. Diese zeugten von Trennung, Leid und ewiger Hoffnung.

Der Motorradlärm unterbrach die Gedanken der Leute, die wie dunkle, mundlose Schatten dagestanden waren. Es fuhr an ihnen vorbei, während der Regen auf die Häuser der imposanten Stadt niederprasselte. An der Kreuzung des Friedensboulevards drehte es um und kehrte mit der gleichen Geschwindigkeit zurück. Die Soldaten bekamen das nur ihnen verständliche Signal, und das Motorrad verlor sich in der Tiefe der in Regen getauchten Straße.

Die Menschenkolonne füllte sich rasch durch die Gebäudetüren beiderseits der Straße. Die von der Monotonie des Regenplatschens geschaffene Stille wurde durch die befehlenden Stimmen der herrischen Soldaten zerstört.

“Die Kinder in den dritten Waggon, die anderen in die Waggone eins, zwei und vier!”, ertönte eine militärische Stimme. Die Alte stöhnte. Ilkoni hob seinen Zylinder vom Kopf, und die Regentropfen vermochten sein im Gehirn entfachtes Feuer nicht zu löschen. Alles war zur Gefühllosigkeit erstarrt, der Regen hatte seine frühlingshafte Frische verloren.

In der ersten Kurve brachten die Soldaten die Kinder in den dritten Waggon. Jenen, die weinten, wurde der Mund zugeknebelt. Sie wurden in die Arme des Soldaten geworfen, der den Waggon mit Kindern füllte. Die beiden zarten, für den anklopfenden Frühling geborenen Enkelinnen wurden der Alten aus ihren Händen gerissen. Die bewusstlos Gewordene wurde einfach auf den Boden des anderen Waggons geworfen, wo Ilkoni einen Platz gefunden hatte.

“Wir luden die Kinder in den Waggon und brachten sie auf den Hügel über der Stadt unter dem Schloss. Dort wurden genau hundert Kinder erschossen. Die beiden Mädchen mit den weißgescheckten Kleidern hatten in der Reihe der Exekution die Nummer neun und elf. Die Erwachsenen landeten in der Gaskammer”, schrieb die Stadtzeitung nach dreißig Jahren, als das Gericht keine Bedeutung mehr hatte.

Die Wiese über der alten Stadt füllten sich Ende März stets mit scheckigen vielfarbigen Schmetterlingen, die im tänzelnden Spiel von Anna und Lena fliegen. Die träumenden Augen der Mutter sahen die Töchter mit Brautschleier. Sie war in die nördliche Stadt zurückgekehrt, wo das Grab ihrer rosigen Blumen war, dort, wo im Frühling die frischen Märzblumen blühten. Die Tränen im glänzenden Kerzenlicht teilten den Schmerz der vergangenen Nacht.

Der eherne Ilkon kehrte mit seinen Studenten in die Bibliothek der Hauptstadt zurück, jetzt neben der Jahrhundertuniversität. Das Tor des Herkules öffnete sich frei der von der blauen Nacht der schmerzlosen Tode verwundeten Menschheit entgegen, der Drache wand sich im Purgatorium der dunklen Zeit. Ilkoni grüßte in der Sprache des Vaters der Albanologie, der jahrtausendealten Geheimnisse des Alten Wissens.

 

Veröffentlicht von gazmendfreitag

I’m a Kosovar artist living and making art in Linz, Austria. I was born in Pataqani i Poshtëm, Republic of Kosovo on 25 May 1968.

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