Gazmend Freitag
Paul Parin, der Begründer der Ethnopsychiatrie, hat seinen Studenten empfohlen, die klassischen Romane eines Landes zu lesen, wenn sie dieses Land und seine Menschen besser verstehen wollen. Literatur ist in diesem Sinne weit mehr als schöngeistige Unterhaltung. Literatur trägt zur Bildung bei. Bildung ist weit mehr als Ausbildung, die in der Regel nur Wissen vermittelt. Wissen ist weniger als Verstehen, denn Verstehen impliziert auch das emotionale Verständnis. Verständnis wiederum ist nicht gleichbedeutend mit Einverständnis.
In diesem Sinne sollte man die Werke des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth (1933-2018) lesen. Sie sind stark autobiografisch, seine Geschichten sind Teil der amerikanischen Geschichte und sollten deshalb auch von Historikern gelesen werden. Eines seiner letzten Werke, „Nemeses“, spielt 1944 in der Zeit einer (fiktiven) Polio-Epidemie. Eine Lektüre, die (so wie „Die Pest“ von Albert Camus) zu einem besseren Verständnis der aktuellen Corona-Pandemie beiträgt als viele wissenschaftliche Erklärungen auf Basis zweifelhafter Theorien.